Am historischen Scheideweg- Wie die Globalisierung die Geschichtsschreibung verändert.

Am historischen Scheideweg-
Wie die Globalisierung die Geschichtsschreibung verändert.

Als Kunsthistorikerin unter lauter Historiker:innen habe ich bei H&C Stader einen Sonderstatus. Ich habe zwar auch etwas mit Geschichte im Namen studiert, mich aber mit anderen Methoden und wissenschaftlichen Betrachtungsweisen auseinandergesetzt. Meine etwas anders geartete Vorbildung erlaubt es mir, eine Art Außenperspektive einzunehmen. Seit bald einem Jahr setze ich mich verstärkt mit modernem Feminismus, mit Rassismen in der Sprache und neuen historischen Ansätzen auseinander, die unsere gewohnte Sicht auf die Dinge in Frage stellen. Unweigerlich setze ich meine neu gewonnenen Erkenntnisse in Verbindung zu unserer Arbeit in der Geschichtsagentur. Auf dieser Basis ist auch dieser Beitrag entstanden, der meine sehr persönliche Einschätzung wiedergibt.

Als wichtigste Inspirationsquellen seien „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ von Yuval Noah Harari, auf Deutsch erstmals erschienen 2013 und „History Matters! – oder warum Unternehmenskommunikation Unternehmensgeschichte braucht“ von Matthias Koch, erschienen in: Kommunikationsmanagement. Strategien, Wissen, Lösungen, von Günter Bentele (Hrsg.) / Manfred Piwinger (Hrsg.) / Gregor Schönborn (Hrsg.), 1. Auflage 2002, Ergänzung „Kommunikationsmanagement“, Nr. 3.132, November 2020, S. 1-58 genannt.

Inschriften, die die Taten von Herrschern preisen, Heldenepen und kanonisierte Bibeltexte sind die ältesten uns überlieferten Quellen, die ein Stück Menschheitsgeschichte beschreiben. Unverhohlen werden hier Könige, Heerführer und mutige Menschen (meist Männer) gepriesen, ohne jeglichen Anspruch auf „Objektivität“ der Schilderung des Geschehens zu erheben. Das ändert sich mit der in der Antike entwickelten Geschichtsschreibung, die für sich den Ansatz der Wahrhaftigkeit in Anspruch nahm. Etabliert hat sich trotz dieses Anspruchs eine von den Herrschern vorgegebene Historiographie. Ab dem 18. Jahrhundert schrieben sich Verfasser historischer Werke im Geiste der Aufklärung auf die Fahnen, gegen die Geschichtsklitterung zur Rechtfertigung von politischen Ansprüchen anzuschreiben. Autoren des 19. Jahrhunderts waren darum bemüht, sich jeglicher (Geschichts)Konstruktion zu enthalten. Historiker:innen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts haben ein Bewusstsein für ihre Parteilichkeit entwickelt und  mit Hilfe der neu aufgebrachten Mentalitätsgeschichte versucht, bisher unbeachtete historische Quellen in den Blick zu nehmen.

Unser Geschichtsverständnis auf dem Prüfstein

Und welche historiographische Herangehensweise beschäftigt die Historikerzunft von heute? Prägend wirken die globalen Bewegungen, die sich aufgrund alarmierender Ereignisse gebildet haben: Fridays for Future in Sachen Klimaschutz, Black Lives Matter in Sachen Rassismus, MeToo in Sachen Sexismus. Durch diese weltumspannenden Bewegungen werden wir erst jetzt (!) von unserer postkolonialen Weltanschauung befreit, in der wir Rassismus ebenso hingenommen haben wie Geschlechterungleichheiten und die Ausbeutung bestimmter Regionen. Historiker wie Yuval Noah Harari nehmen dies deutlich wahr und wagen es, historische Entwicklungen, Gesellschaftsordnungen und Wirtschaftssysteme in ihrer Gesamtheit nicht mehr als logische Konsequenz bestimmter Verkettungen oder gar als gottgegeben anzusehen, sondern trauen sich, alles zu hinterfragen und auf den Prüfstein zu stellen. „Jeder beliebige Moment der Geschichte ist ein Scheideweg.“, schreibt Harari und macht damit deutlich, dass eine seriöse, fundierte Geschichtsschreibung auch jene Aspekte in den Blick nehmen muss, die zu keinem Erfolg geführt haben oder sogar in einer Katastrophe endeten. Die Einbeziehung unterschiedlicher Blickwinkel auf Geschehnisse und eine Ausdifferenzierung des Quellenmaterials sind dabei für zeitgenössische Historiker:innen genauso unabdingbar wie deren wissenschaftliche Prüfung.

„Geschichte ist das Muster, das man hinterher in das Chaos webt.“, formuliert es der italienische Autor Carlo Levi. Und so wie sich Farbmuster ändern und bestimmten Moden unterliegen – um bei Levis Bild zu bleiben – wandelt sich mit jeder Generation auch der Blick auf Geschichte. Jede Generation ist Kind ihrer Zeit und bewertet historische Ereignisse unterschiedlich. Gleichzeitig stellt jede Generation für ihr gesellschaftliches Zusammenleben ein ethisches Koordinatensystem auf, an dem auch die Vergangenheit gemessen wird. Zwei Beispiele: Geschichtsschreiber der Renaissance sahen die Sklavenhaltung im Römischen Reich als gerechte Gegebenheit, zu deren Schilderung die Sklaven selbst nichts beitragen konnten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden Frauen in historischen Untersuchungen meistens marginalisiert, weil sie nicht an den großen politischen Wendungen beteiligt waren.

Umdenken bei Unternehmen

Unser heutiges ethisches Koordinatensystem hat sich in den letzten Jahren durch die globale, digitale Vernetzung und das dadurch erzielte Zusammenrücken der Weltgemeinschaft erheblich verändert. Somit gehen auch moderne Historiker:innen mit einer ganz anderen Haltung an historische Themen heran. Haben wir noch bis vor kurzem mühelos akzeptiert, dass wir in Europa Teil der wohlhabenden Welt sind und es ärmere Regionen gibt, auf deren kosten wir leben, findet seit geraumer Zeit ein Umdenken statt. Mehr und mehr lassen wir die Erkenntnis zu, dass unser Reichtum nach wie vor auf der Ausbeutung anderer Regionen beruht, deren Staatsformen und Gesellschaftssysteme wir bisher nicht als mit unserem ebenbürtig angesehen haben. Mehr und mehr können wir uns eingestehen, eine Wertung vorzunehmen, die bislang immer zu unseren wirtschaftlichen Gunsten ausgefallen ist.

Als wertschöpfende Kraft unserer Gesellschaft ergeben sich aus diesem neuen Ansatz der Geschichtsbetrachtung auch Chancen für Unternehmen und Organisationen, ihre Historie unter anderen Blickwinkeln neu zu entdecken. Einige von ihnen haben bereits Historiker:innen beauftragt, tief und breit zu recherchieren, um neben Erfolgsstorys Verstrickungen in  problematische Lieferketten, umweltbelastende Verfahrensweisen oder die in Vergessenheit geratene Beschäftigung von Zwangsarbeiter:innen aufzudecken und umfangreich zu erforschen. Andere werden demnächst nachziehen.

Denn Unternehmen und Organisationen werden sich mehr und mehr bewusst, dass sie auch in der Rückwärtsbetrachtung eine gesellschaftliche Verantwortung tragen, die sich unter dem Begriff der Corporate Historical Responsibility (ein von der Kommunikationswissenschaftlerin Claudia I. Janssen eingeführter und von Matthias Koch aufgegriffener Begriff, angelehnt an die im Wirtschaftsleben bereits fest verankerte Corporate Social Responsibility) fassen lässt. Das aktuelle Beispiel des von nigerianischen Bauern erfolgreich verklagten Shell-Konzerns zeigt, was passieren kann, wenn man sich jahrelang nicht für die eigene Unternehmenshistorie interessiert und die Verantwortung für regionale Ausbeutung nicht wahrnimmt. Schlechte Presse, ohne die Deutungshoheit selbst in der Hand zu haben und negative Auswirkungen auf das Image sind die Folgen.

Geschichtsbewusstsein und gesellschaftliche Verantwortung

Unternehmen und Organisationen erhöhen jedoch ihre Glaubwürdigkeit, sobald sie sich ihrer eigenen Geschichte widmen. Im Falle des Nationalsozialismus herrscht hier bereits eine Haltung, die als Blaupause für andere schwierige Themen dienen kann, nämlich aus eigener Motivation heraus solche historischen Kapitel nicht nur gründlich aufarbeiten zu lassen, sondern auch proaktiv zu kommunizieren. Firmen, Ministerien und andere Organisationen können damit adäquat auf den weltanschaulichen Wandel reagieren und zu virulenten gesellschaftlichen Entwicklungen Stellung beziehen. Als essentielle Kräfte unserer Gesellschaft leisten sie am wirkungsvollsten ihren Beitrag, wenn sie ihre Geschichte nach professionellen archivischen Kriterien sammeln und erforschen lassen, ohne dabei bestimmte Themenbereiche auszusparen. Denn dann gingen Informationen verloren, die zu einem späteren Zeitpunkt plötzlich relevant werden könnten.

Jede Generation von Historiker:innen soll die Chance haben, auf Basis einer breiten Quellenlage ihr eigenes Muster in – wie es Carlo Levi formulierte - das „Chaos der Geschichte“ zu weben und somit dem jeweiligen gesellschaftlichen Wandel Rechnung zu tragen.

[Bildnachweis: Sumanley xulx auf pixabay]